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Buch-Tipp: „Career Suicide“ von Bill Kaulitz

Nachdem ich in meiner letzten Rezension von Hape Kerkelings neuestem Buch schrieb, dass ich seine warmherzige, leise Art und seinen feinsinnigen Humor liebe, wirkt es vielleicht etwas amüsant, dass die zweite Autobiografie, die ich diesen Monat vorstellen möchte “Career Suicide: Meine ersten dreißig Jahre” von Bill Kaulitz ist, denn als leise würde ihn wohl eher niemand bezeichnen und sein Humor ist auch nicht gerade zurückhaltend feinsinnig (warmherzig passt aber auf jeden Fall auf beide). Trotzdem passen die beiden Bücher für mich gut zusammen, ist Hapes Buch das Wohlfühlbuch das man lesen möchte, um sich besser zu fühlen, nachdem man gerade versehentlich ein Spiegel Interview mit Thomas Gottschalk gelesen hat, ist Bills Buch das Buch, dass man lesen möchte, wenn man gerade mal nicht mit Yoga und Meditation auskommt, sondern seinen Frust über die Menschheit lieber mal voller Wut an einem Boxsack auslassen möchte. Denn wenn Bills Buch eine Emotion transportiert dann ist es sicher Wut und den Drang seine Emotionen mal ungefiltert loszuwerden. 

Das Buch habe ich tatsächlich schon vor einigen Monaten gelesen, aber da es ursprünglich im Januar 2021 erschienen ist, macht es nun auch nichts wenn die Rezension noch einige weitere Monate auf sich warten ließ.

Warum ich es gerade 2024 entdeckte: 2023 tauchten in der Insta Story einer Influencerin, der ich folge, Videos von einem Festival Auftritt von Tokio Hotel auf. Da ich Tokio Hotel immer sympathisch fand (ohne mich damals 2005 – 2010 groß mit ihnen zu beschäftigen, für die damalige Zielgruppe war ich schon zu alt) und mich diese Insta Story ansprach, weil das Konzert cool aussah, blieb mir der Gedanke, die Band mal live sehen zu wollen im Hinterkopf. Das vergaß ich dann aber erstmal wieder. Als ich dann Werbung für die neue Serie “Kaulitz & Kaulitz” auf Netflix sah wollte ich mir diese ansehen, völlig ohne Erwartungen (da ich kein Privatfernsehen hatte und auch so gut wie gar kein lineares Fernsehen sehe waren die Kaulitz Brüder mir irgendwie nie so wirklich bewußt irgendwo begegnet, dass Tom Heidi Klum geheiratet hat, hab ich natürlich mitbekommen, aber das wars dann auch schon). Um so mehr begeisterte mich (die nur auf den ersten Blick sehr oberflächliche und schrille) Netflix Doku, weswegen ich begann den unheimlich lustigen Podcast zu hören und bald auch eine Konzertkarte für Ludwigsburg gekauft hatte (glücklicherweise wurde eine gute Freundin gleichzeitig Fan) und eben auch Bills Buch lesen wollte. 

Das Buch erzählt von Bill und Toms Kindheit, ihrer schwierigen und verhassten Schulzeit, der Entstehungsgeschichte von Tokio Hotel, der verrückten Zeit der 5 Jahren extremen Hypes, den Machenschaften der Musikbranche, Knebelverträgen und Deals mit der Presse, der Flucht in die USA, der künstlerischen Befreiung der Band und den ersten Jahren von Bill und Tom in den USA. Es endet ca. mit Toms Hochzeit mit Heidi Klum, was für beide Brüder sein großer emotionaler Neuanfang war, schon allein weil sie bis dahin ihr ganzes Leben zusammen gewohnt haben (auch ist mir Heidi Klum durch Buch und Podcast nun auch deutlich sympathischer als früher).

Das Buch endet somit auch einige Jahre vor dem aktuellen großen Hype um die Kaulitz Brüder mit dem Bill sich nach außen wieder ein neues Image geschaffen hat, dass des ständig (etwas zu) gut gelaunten Spaßvogels, das natürlich nur deswegen so sympathisch ankommt, weil man immer merkt, dass sich hinter der Fassade viel mehr verbirgt (sonst wäre auch die Netflix Serie nicht so berührend und faszinierend, sondern oberflächlich). Das Buch, das eben nicht locker und lustig ist, eignet sich somit hervorragend um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen und mehr über die Bandgeschichte und die Geschichte von Bill und Tom zu lernen. Es ist allerdings finde ich auch nicht ganz einfach zu lesen, ich brauchte wegen der vielen Eindrücke und auch weil darin durchaus auch viele schlimme Dinge passieren zwischen den einzelnen Kapiteln öfters mal eine Pause. Besonders gut gefallen hat mir, dass vor jedem Kapitel dazu passende Fotos aus der jeweiligen Zeit abgebildet waren, auch vermutlich bis dahin noch unveröffentlichte Fotos aus der Kindheit.

Für Tokio Hotel Fans der ersten Stunde, die die Band damals vergöttert haben, kann das Buch vermutlich auch etwas schockierend sein, wenn man erfährt wieviel Druck und Zwängen die Band damals ausgesetzt war und wie wenig sie sich musikalisch und auch sonst künstlerisch verwirklichen konnte. Auch lieferte das Buch für mich eine Erklärung dafür warum das 4. Studioalbum von Tokio Hotel („Kings of Suburbia), das letzte das sie für ihr altes Plattenlabel rausbringen mussten, so wütend und provokant war. Für mich aber tatsächlich eines der besten Alben, auch wenn sie vermutlich leider kaum was selbst dran verdienen wenn ich das streame. Da ich keine emotionale Bindung zu den ersten drei Alben von Tokio Hotel habe (und auch finde, dass man die heute wegen Bills jugendlicher Stimme – auf dem ersten Album eher sogar Kinderstimme – die ganz anders klingt als heute sowieso nicht mehr anhören kann ) hat es mir natürlich nichts ausgemacht, die ganzen Enthüllungen und kritischen Auseinandersetzungen mit der Musikbranche zu lesen, fand sie aber sehr interessant (auch wenn ich mir vorher schon keine Illusionen gemacht habe, wie es da zugeht). 

Kritikpunkte an dem Buch, die gelegentlich in Rezensionen auf Amazon geäußert wurden sind, dass die Sprache vulgär ist und dass Bill bisweilen arrogant ist (nicht umsonst hat seine Lektorin Bill laut Buch gefragt, ob ihm eigentlich klar ist wie arrogant und unsympathisch er an manchen Stellen wirkt). Sicherlich urteilt Bill oft sehr hart über andere Menschen (und mag es andersrum nicht wenn andere das bei ihm tun). Allerdings haben die meisten Promis und auch Normalos ja die Angewohnheit in der Öffentlichkeit ihre negativen Charaktereigenschaften (die natürlich jeder hat) zu verbergen und sich im bestmöglichen Licht darzustellen. Dass Bill das nicht tut, macht ihn und das Buch so interessant und eher sympathischer meiner Meinung nach. Wenn man nun sehr prüde ist und gar keine etwas derbe oder versaute Sprache mag ist sicher weder das Buch noch der Podcast der Kaulitz Brüder was für einen. Allerdings fand ich nicht, dass das Buch unnötig oder übertrieben vulgär geschrieben ist, entsprechende Ausdrücke finden sich nur an Stellen wo es eben auch dazu passt . Auch klingt das Buch wenn man den Podcast gewohnt ist sehr authentisch nach Bill, man hat quasi seine Stimme “im Ohr”, ergo passt die Sprache des Buches auch perfekt zu ihm. 

Für mich ist es die beste Autobiografie, die ich dieses Jahr gelesen habe und Bill Kaulitz einer der faszinierendsten Menschen, die Deutschland zu bieten hat. Ich kann mir im Nachhinein gut vorstellen, wie Tokio Hotel 2005 einen derartigen Hype auslösen konnten, denn Bill hat etwas an sich dass Menschen anzieht, das aber auch polarisiert und extreme Reaktionen hervorruft. Gleichzeitig ist er aber tatsächlich unheimlich liebenswert und gleichzeitig etwas undurchsichtig, weiß man doch nie ganz sicher was in der jeweiligen Situation übertrieben, authentisch, wahr oder teils erfunden ist, was der Provokation dient oder wirklich genau das ist was er im jeweiligen Moment denkt. Trotzdem schafft er es in der Gesamtheit seiner chamäleonhaften Persönlichkeit nie aufgesetzt zu wirken, sondern lediglich wie ein sehr emotionaler authentischer Mensch mit vielen verschiedenen Facetten, weswegen ich nun sehr gespannt auf die nächsten 30 Jahre bin 😉