Bücher

Buch-Tipp: „Identitti“ von Mithu Sanyal

Seit zwei Jahre lese ich jedes Jahr gezielt ein bis zwei Bücher aus der Long- oder Shortlist des Deutschen Buchpreises. Eines dieser Bücher war dieses Jahr „Identitti“ von Mithu Sanyal, das es bist auf die Shortlist geschafft hat. Die Studentin Nivedita stammt als Kind gefühlt aus 2 Welten, ihre Mutter eine Deutsche mit Herkunft Polen, ihr Vater ein Deutscher mit Herkunft Indien. Schon als Kind hat Nivedita das Problem, dass sie sich nirgends wirklich zugehörig fühlt, die indischstämmigen Freund:innen ihrer Cousine Priti nennen sie bei ihrem Familienbesuch in London „Kokosnuss“ (nicht richtig indisch/PoC, außen schwarz, innen weiss), mit ihrer weissen Mutter kann Nivedita sich gar nicht identifizieren, zum Vater besteht aber auch überhaupt kein enges Verhältnis, so dass sie das Gefühl hat über die indische Kultur gar nichts zu wissen. Doch dann fängt Nivedita ein Studium bei Saraswati an, einer öffentlichskeitswirksamen megaerfolgreichen indischstämmigen Professorin für Postcolonial Studies in Düsseldorf. Zum ersten mal fühlt sich Nivedita gehört, verstanden und angesprochen, nicht mehr identitätslos, liebt die Debatten über Rassimus und White Priviledge, den Austausch mit den Kommilitonen und führt durchaus erfolgreich selbst einen Blog namens „Identitti“ zu diesen Themen. Saraswati ist für sie Mentorin, Vorbild, wenn nicht noch mehr.
Doch dann, grade als Nivedita ein Radio-Interview über Saraswati gab, bricht die Hölle los. Aufgedeckt ausgerechnet durch ihre Cousine Priti und Saraswatis Bruder stellt sich heraus, dass Saraswati in Wirklichkeit Sarah Vera Thielmann heisst, aufgewachsen in Karlsruhe bei ihren eindeutig sehr weissen Eltern…ihre ganze Identität als Person of Color eine Täuschung. Während der erwartete Social Media Shitstorm über Saraswati (und wegen dem Interview und ihrem Status als Saraswatis Star-Studentin auch über Nivedita) hereinbricht, sucht Nivedita die Konfrontation auf ganz andere Weise, sie sucht Saraswati auf, zieht sogar bei ihr ein. Immer auf der Suche nach dem Warum, nach einer Erklärung, nach einer Entschuldigung. Doch Saraswati bleibt diese nicht nur schuldig, sie fühlt sich auch nicht schuldig, rechtfertigt sich nicht, fühlt sich sogar im Recht, schließlich ist Rasse nur eine politische und soziale Konstruktion…

Das Buch hat natürlich einige Inspiration aus tatsächlichen Ereignissen gezogen, vor allem aus dem Fall der us-amerikanischen Bürgerrechtlerin Rachel Dolezal, die sich jahrelang als Schwarze ausgab (und sich bis heute als Schwarze sieht).
Das Buch ist dabei vom Stil her frech, ironisch, humorvoll, provokant, witzig, fantasievoll und vor allem eins gar nicht „schwer. Lediglich am Ende wird die Geschichte ernster, gleichzeitig aber auch mit einem kleinen Ausflug ins Reich der Fantasie. Mich hat das Buch erstens hervorragend unterhalten, zweitens sehr zum Denken angeregt (mehrmals stiess ich auf Sätze, die mir wirklich ganz neue Gedankenwelten eröffneten), drittens über Dinge informiert über die ich noch nicht genug weiß, …für mich also eines der besten Bücher die ich dieses Jahr gelesen habe. Gleichzeitig habe ich beim Lesen einiger anderer Rezensionen einige sehr negative Rezensionen gelesen, das Buch scheint also durchaus gespaltene Reaktionen hervorzurufen, allerdings wirkten die Rezensent:innen der 1-Sterne Bewertungen auf mich überwiegend wie Menschen, die sich von Themen wie White Priviledge oder Identitätspolitik sofort negativ getriggert fühlen (immerhin trotzdem mal dazu gegriffen?) oder schlicht sehr verbissen und humorlos, nachvollziehen konnte ich die Kritiken jedenfalls nicht und warum manche Menschen bei diesen Themen sofort ein rotes Tuch sehen, dürfte für mich darauf hindeuten, dass da grade in Deutschland noch extrem viel aufzuarbeiten ist, gefühlt hinken wir anderen Ländern da noch um Jahrzehnte hinterher und arg weit sind die auch noch nicht.

Bücher, Hörbuch

Hörspiel-Rezi: „Vierundreißigster September“

Das Hörbuch „Vierunddreißigster September“ von Angelika Klüssendorf wird gelesen von Corinna Harfouch und Walter Kreye und ich muss sagen, dass das auch mit ein Grund war, warum ich es mir ausgesucht habe. Denn Corinna Harfouch ist eine Schauspielerin, die ich schon seit meiner Kindheit sehr gerne mag. Doch auch der Ausgang der Story klang sehr faszinierend für mich: Walter und Hilde sind ein älteres Ehepaar, die in einem kleinen Dorf in Ostdeutschland leben. Walter ist „Wendeverlierer“ und deswegen chronisch mies gelaunt, entsprechend schlecht behandelte er seine Ehefrau. Doch dann bekommt Walter einen tödlichen Gehirntumor und ist plötzlich wie verwandelt, nett, rücksichtsvoll und gut gelaunt. In der Silvesternacht erschlägt Hilde Walter und verschwindet spurlos, ob sie es aus Rache, Wut oder doch Barmherzigkeit tat, weiß niemand.

Fortan verbringt Walter seinen Tod auf dem Dorffriedhof zusammen mit Hildes Mutter und zahlreichen anderen bereits verstorbenen. Als zuletzt Verstorbener darf er die Rolle des Chronisten übernehmen und schaut sich an was sich so alles tut in dem kleinen Dorf nach seinem Ableben.

Das Buch wird im Wechsel aus der Perspektive des toten Walter erzählt und im Wechsel aus Sicht der vielen verschiedenen Dorfbewohner, von denen jeder so eine Eigenheiten, Schrullen und Probleme hat. Auf der Gewinnerseite des Lebens stehen die Bewohner des Dorfes definitiv fast alle eher nicht.

Sehr gut gefallen hat mir an dem Buch die sehr atmosphärische Lesung durch Corinna Harfouch und Walter Kreye, ebenso die Grundidee und die Atmosphäre der Story. Letztendlich muss ich sagen, dass mich das Buch trotzdem nicht zu 100% abgeholt hab. Laut Kritik und Ankündigung dient der Dorfkosmos im Buch als Gesellschaftsspiegel, ähnlich also von der literarischen Idee wie die (absolut hervorragenden) Romane von Juli Zeh. Doch mir fehlt bei dem Roman von Angelika Klüssendorf doch etwas der rote Faden. Dadurch dass fast alle Dorfbewohner im Buch ähnlichen Raum einnehmen, fehlt etwas die Handlung, das Ziel worum es eigentlich geht. Auch die Trennung der Perspektiven von Walter im Reich der Toten und der Lebenden auf der anderen Seite blieb für mich am Ende irgendwie „grundlos“ und damit irgendwie nur eine Spielerei. Entsprechend wird das Buch wohl etwas polarisieren, ist es brillant oder letztendlich doch eher belanglos? So richtig beantworten kann ich die Frage nicht, ich habe es gerne gehört, aber würde es trotzdem nur bedingt weiterempfehlen.