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Buchrezension: „Amerika“ von Kai Wieland

Aufmerksam geworden bin ich auf „Amerika“ anhand des Titels, der wenn man sich den Klappentext anschaut ganz im Widerspruch zu dem Schauplatz des Buches steht. „Amerika“ spielt nämlich keineswegs in den USA oder einer anderen amerikanischen Region, sondern in einem Ort, der gar nicht so weit weg ist von meiner eigenen Heimat. Das gesamte Buch spielt sich in einem kleinen fiktiven Dorf im Schwäbischen namens Rillingsbach ab, konkreter einem kleinen Dorf in der Nähe von Murrhardt (bei Heilbronn). Mich hat es gereizt mal ein Buch aus der (weiteren) eigenen Region zu lesen und außerdem war ich auch neugierig was es mit dem Titel auf sich hat.

Das Buch ähnelt im Aufbau ein bisschen einem Kammerspiel, der Erzähler ist ein junger Mann, der im ganzen Buch nur als „der Chronist“ bezeichnet wird. Man erfährt nicht viel über ihn (nur dass er in der Dorfkneipe Fanta trinkt und gerne auf Youtube unterwegs ist). Er möchte eine Dorfchronik über Rillingsbach schreiben, wozu und welcher Art erfährt der Leser nie. Deswegen sitzt der Chronist in der einzigen Dorfkneipe zusammen mit Martha, der Wirtin, Heide (der jüngsten Stammkundin, die aber vermutlich auch schon eher im Rentenalter ist) und Frieder und Alfred, 2 älteren Herren, die sich selten ganz grün sind. Die Dorfkneipe war früher (vor Kriegsende) mal ein gut gehendes Hotel, das Marthas Familie gehörte, inzwischen ist sie aber nur noch von den wenigen Stammgästen des Dorfes bevölkert und auch Rillingsbach selbst ist mehr oder weniger tot.

So erzählen die Dorfbewohner in wechselnden Episoden aus ihrer eigenen Geschichte und die ihrer Familie und daraus entspinnt sich mit der Zeit ein immer größeres Bild, von Rillingsbach, von den einzelnen Personen, von Nachkriegsdeutschland und von der unheilvollen Geschichte rund um den Tod von Hildes Vater, der im Dorf seit Jahrzehnten zu einem emotionalen Schwelbrand führte.
Was aber hat Amerika nun mit Rillingsbach zu tun? Die USA sind auf mehrere Arten und Weise für den Ort und die Geschichte einzelner Personen wichtig, nach dem Krieg als Besatzungsmacht und für Alfred als eine Art große Sehnsucht, die er sich auch erfüllt. Als einziger Rillingsbacher wohl schafft er den Sprung über den großen Teich, allerdings nur zu einer eher skurrilen Rundreise zu den Schauplätzen an denen berühmte Amerikaner ermordert wurden (z.B. Martin Luther King, Bonnie & Clyde, John F. und Bobby Kennedy), die statt eines Traumurlaubs eher zu einer Zerreißprobe für seine Ehe wird…

Der Schreibstil des Buches ist eher nüchtern und distanziert, man blickt von außen durch die betont neutrale Brille des Chronisten auf die Lebensgeschichten (wobei eine leise Ironie immer spürbar ist) und das Buch will offenbar sehr viel und sehr viel auf einmal. Es geht um persönliche Träume, unverwirklichte Lebensziele, Versuche der Freiheit und Stagnation der einzelnen Charaktere, gleichzeitig um die (Nicht-) – Aufarbeitung der Nazi-Zeit, um Entnazifizierungsmaßnahmen, um ambivalente Einstellungen gegenüber der Amerikaner, um schwelende Konflikte und sogar um einen ungelösten Mord. Zunächst hatte ich das Gefühl mit dem Buch doch etwas zu fremdeln, aber im Nachhinein hat es doch unheimlich viele Themen über die man nachdenken kann und irgendwie doch auch alle untergebracht ohne dass es unglaubwürdig wirken würde.
Von dem her fand ich das Lesen des Buches sehr bereichernd. Eine kleine Kritik, die ich habe ist aber, dass aus welchen Gründen auch immer die Frauenfiguren Martha und Hilde in dem Buch für mich deutlich lebendiger rüber kamen, während Frieder und Alfred irgendwie schwer zu fassen blieben. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mich mit den Frauenfiguren natürlich mehr identifizieren konnte.