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Buch-Tipp: „Die Eroberung Amerikas“ von Franzobel

Normalerweise lese ich nicht besonders gerne historische Romane, allerdings habe ich mit dem österreichischen Autor Franzobel schonmal gute Erfahrungen gemacht. Sein Roman „Das Floß der Medusa“ (siehe meine Rezension unter: https://litlagletta.com/2017/12/30/lesetipp-das-floss-der-medusa-von-franzobel/) hat mir hervorragend gefallen. Als ich nun also durch die Liste der Bücher schaute, die für den Deutschen Buchpreis nominiert waren, fiel mir „Die Eroberung Amerikas“ sofort ins Auge. Und die Idee hinter dem Buch ist sehr ähnlich wie beim „Floß der Medusa“, ein reales historisches Ereignis dient als Grundlage für einen spannenden, kreativen und ironischen Roman. Und auch diesmal steht eine gescheiterte Expedition im Mittelpunkt der Geschichte: die letzte große Expedition des Konquistadors Hernando de Soto (von Franzobel eingedeutscht Ferdinand Desoto genannt) nach Florida, die spektakulär scheiterte und statt Reichtümern nur einen Teil der ursprünglichen Expeditionsteilnehmer nach Hause zurückbrachte und auf der De Soto selbst einer Fieberkrankheit erlag.

Der Roman orientiert sich ziemlich stark am tatsächlichen Expeditionsverlauf und an tatsächlich stattgefundenen Ereignissen wie der großen Schlacht von Mauvila, lässt aber mehr als genug Freiheit für Franzobels ausgesprochene Fantasie als Schriftsteller. Das Geschehen wird anhand einiger ausgewählter Expeditionsmitglieder und deren Erlebnissen und Schicksalen erzählt, außer De Soto gibt es seinen Inner Circle an Vertrauten, dazu Ganoven und Banditen, junge Männer die eher unfreiwillig ihr bürgerliches Leben aufgaben und bei der Expedition landeten, christliche Eiferer mit bigotten Missionierungszielen, Naturkundler und Forscher, …alle stürzen sie sich angeführt von De Soto in eine Expedition in ein Land das statt der erwarteten Goldschätze primär Sümpfe, Insekten, Schmutz und Kämpfe mit Ureinwohnern zu bieten hat.

Die Sprache ist dabei ironisch, voller Wortwitz und Anspielungen auf die Moderne (ein Stilbruch den ich schon aus Franzobels anderem Roman kenne und der dem historischen Lesevergnügen überhaupt keinen Abbruch tut) und zeigt auf eindrückliche Art und Weise mit welcher perfider Grausamkeit die selbsternannten Entdecker auf ihrer Reise gegen die Ureinwohner und Sklaven vorgingen, deren Land sie sich bemächtigten.
So regt der Roman auch dazu an, darüber nachzudenken wie unreflektiert die damaligen „Entdecker“ heute noch in der Geschichte der USA stark vertreten sind (Desoto z.B. als Namensgeber für diverse Orte und die gleichnamige Automarke), obwohl ihre Rolle in der Geschichte doch primär von Grausamkeiten gegenüber Sklaven und Ureinwohnern geprägt waren.

Kleinere Kritikpunkte habe ich dennoch: so gibt es im Buch noch einen zweiten Handlungsstrang, der in der Gegenwart spielt: Trutz Finkelstein, ein New-Yorker Anwalt, klagt ca fünfhundert Jahre nach der Desoto-Mission im Namen aller Indigenen die Rückgabe der Vereinigten Staaten an diese ein. Das ist zwar eine spannende Idee, aber die Teile nehmen einen so kleinen Teil des Romans ein, dass es irgendwie überflüssig erscheint. Zweitens werden die Geschehnisse im letzten Drittel des Romans teils etwas grotesk auf die Spitze getrieben (was vielleicht aber auch nur Desotos zunehmende Wahnhaftigkeit besser rüberbringen soll), was mir zumindest gelegentlich etwas „too much“ wurde.
Insgesamt aber ein sehr gelungener und kreativer Roman.

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Buch-Tipp: „Mit Dir, Ima“ von Daniela Kuhn

„Mit dir, Ima“ von Daniela Kuhn ist ein sehr persönliches Buch. Die Schweizerin Daniela Kuhn erzählt darin die Lebensgeschichte ihrer Mutter (das hebräische Wort „Ima“ bedeutet „Mama“), einer Jüdin mit irakischen Wurzel, die in Israel aufwuchs und dann einen nicht-jüdischen Schweizer heiratete, dem sie in die Schweiz folgte. Diese Entwurzelung wäre vermutlich für jeden schon schwierig, doch Daniela’s Mutter ist auch noch psychisch krank, schon vor ihrer Heirat verbrachte sie in Israel einige Zeit in Kliniken. Sie hört Stimmen und leidet öfters unter Wahnvorstellungen (so ist sie irgendwann mal davon überzeugt, dass Prince Charles sie heiraten möchte), die Diagnose lautet Schizophrenie. Über 39x wurde Danielas Mutter im Laufe ihres langen Lebens (zum Erscheinen des Buches war sie über 80) in Kliniken eingewiesen oder liess sich freiwillig einweisen.

Im Mittelpunkt des Buches steht vor allem auch die Beziehung der Autorin mit ihrer Mutter, die in Kindheit und Jugend verständlicherweise oft von Ablehnung geprägt war, dann aber im Alter doch wieder intensiver wurde, schwierig und nervenaufreibend blieb. Aber trotzdem konnte die Autorin im Alter zumindest zeitweise die Nähe zu ihrer Mutter finden, die sie als Kind so schmerzlich vermisst hat.

Die erste Hälfte des Buches fand ich interessant, aber manchmal nicht ganz einfach zu lesen, denn die Lebensgeschichte der Mutter bleibt gefühlt sprunghaft, unvollständig und fragmentiert. Was aber mit Sicherheit daran liegen dürfte, dass das Leben der Mutter eben auch tatsächlich unstet und fragmentiert war und die Autorin die Erinnerungen aus eigenen Tagebucheinträgen und Tagebucheinträgen des Vaters rekonstruieren musste.

Im zweiten Teil erzählt die Autorin dann mehr aus der Gegenwart, wie die Mutter heute im Altenheim lebt, teilweise deutlich stabilisierter als früher, aber dennoch immer wieder in Kliniken eingeliefert werden muss und Mutter und Tochter eine gewisse Stabilität in ihrer Beziehung suchen. Diesen Teil fand ich deutlich eingänglicher und damit auch intensiver und weniger nüchtern erzählt. Am Ende wird auch noch darauf eingegangen wie die Corona-Krise quasi aus dem Nichts das zerbrechliche Gleichgewicht wieder störte, von einem Tag auf den anderen durfte die Autorin ihre Mutter nicht mehr besuchen, diese das Altersheim nicht mehr verlassen.
Die Autorin hat aufgrund dieser Erfahrungen ein Buch über das Besuchs- und Ausgehverbot während Corona in Schweizer Heimen geschrieben, in dem Betroffene ihre Geschichten erzählen konnten.

Mir hat das Buch insgesamt sehr gut gefallen, sicher kein einfaches Thema, aber ein sehr hilfreicher Einblick in den Alltag mit einer psychisch kranken Mutter.

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Buch-Tipp: „Girl A“ von Abigail Dean

„Girl A“ von Abigail Dean wird vom Cover und auch vom Klappentext her tendenziell etwas in Richtung Thriller oder Krimi vermarktet, was dem Buch meiner Meinung nach nicht ganz gerecht wird, denn ich finde es handelt sich dabei eher um ein Psychogramm. Wenn man den Roman in das Genre Krimi/Thriller/Mystery einordnet passt psychologischer Krimi vermutlich noch am Ehesten.
Die Hauptperson des Romans ist Lex, die als Jugendliche zweifelhafte Berühmtheit erlangte als „Girl A“, dem Mädchen das es schaffte sich aus ihrem Horror-Elternhaus zu befreien, in dem ihr religiös fanatischer Vater und die passiv ergebene Mutter sämtliche Kinder der Familie zuletzt mit Ketten ans Bett gefesselt gefangen hielt. Lex ist ausgezehrt, geschwächt und benötige zahlreiche OPs, Physiotherapie und Psychotherapie, bevor sie genau wie ihre Geschwister von jeweils einer unterschiedlichen Pflegefamilie aufgenommen wird.

15 Jahre später ist Lex erfolgreiche Anwältin und lebt in New York. Als ihre Mutter im Gefängnis stirbt (der Vater beging direkt nach Lex‘ Flucht Selbstmord), wird sie zur Testamentsvollstreckerin benannt und setzt sich das Ziel ihre Geschwister davon zu überzeugen das ehemalige „Horror-Haus“ ihrer Kindheit in eine Begegnungsstätte umzuwandeln.

Die Erzählweise des Buches ist interessant, jedes Kapitel ist einem Geschwisterteil von Lex gewidmet, so dass man in jedem Kapitel mehr über die erwachsenen Geschwister und ihre Beziehung zu Lex erfährt, zusätzlich wird die Geschichte der Familie in Rückblenden kontinuierlich erzählt und aufgearbeitet, so dass man nach und nach erfährt wie eine zunächst fast normale Großfamilie vom religiösen Fanatismus und beruflichen Scheitern des Vaters schleichend in die Katastrophe getrieben wird. Anklänge an reale Fälle (wie vermutlich vor allem dem Fall der Turpins in Kalifornien) lassen das grausame Geschehen um so nachvollziehbarer wirken.

Das Buch hat hier oder da kleinere Schwächen: anfangs war es manchmal schwierig die vielen verschiedenen Personen, die in verschiedenen Zeitebenen und Episoden auftauchen auseinander zu halten. Außerdem habe ich die einzige und fürs Buch zentrale „überraschende Wende“ schon relativ früh erraten, was wie ich vermute doch einigen erfahrenen Lesers ebenfalls gelingen wird. Allerdings muss ich sagen, dass diese kleinen Abstriche für mich am Ende unerheblich waren, denn das Buch entwickelte für mich in der zweiten Hälfte so einen Sog, dass ich es an einem Abend verschlungen habe und es mir sogar noch im Bett nachhing, was mir wirklich schon lange nicht mehr passiert ist. Der Autorin gelang es, dass man richtig in die kaputte Familie und Lex‘ Psyche hineingezogen wird und am Ende beinahe zusammen mit ihr in das Horror-Haus ihrer Kindheit zurückkehrt. Aus diesem Grund fand ich das Buch letzendlich trotz der Schwächen fast perfekt und würde es jedem empfehlen, der keinen 08/15 Thriller erwartet und komplexe außergewöhnliche Geschichten mag.

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Buch-Tipp: „Hard Land“ von Benedict Wells

„Hard Land“ von Benedict Wells spielt in den 1980er Jahren in einer etwas heruntergekommenen Kleinstadt in Missouri. Der 15-jährige Sam lebt dort mit seinem Vater und seiner Mutter, die seit mehreren Jahren an einem Hirntumor leidet. Die ständige Angst vor dem Tod seiner Mutter belastet Sam und auch sonst war seit Teenager-Leben bisher geprägt von seiner Schüchternheit und Angststörungen. Doch als er sich im lokalen Kino um einen Sommerferien-Job bewirbt, um zu vermeiden, dass er über den Sommer zu Verwandten geschickt wird, verändert sich sein Leben. Denn dort arbeiten auch 3 ältere Teenager, die überraschenderweise mit der Zeit zu guten Freunden werden und im Falle der charmanten Tochter des Kinobesitzers vielleicht sogar zu etwas mehr. Erstmals seit langem erlebt Sam unbeschwerte und lustige Tage und gewinnt mit der Zeit an Selbstbewusstsein, auch wenn die Sorgen um seine Familie weiterhin immer im Hintergrund lauern. Das Buch behandelt dabei alle klassischen Themen des Erwachsenwerdens, Freundschaft, erste Liebe, Zukunftssorgen, Heimat, Familie und Trauer, aber mit viel Leichtigkeit und einer schönen Prise Melancholie.

Das Buch kann man sicher als klassischen „Coming-of-Age“ Roman bezeichnen, ein Genre das sowieso schon immer zu meinen Lieblingsgenres gehört. Trotzdem sticht „Hard Land“ aus der Masse der Bücher positiv heraus, denn der Roman ist einfach überdurchschnittlich gut geschrieben, charmant, berührend und lustig und trotzdem auch sehr ernst, aber immer ohne deprimierend zu wirken. Sam ist ein toller Hauptcharakter, aber auch alle andere Charaktere sind lebendig und der Autor schafft es das Leben von Sam und seinen Freunden mit einer Leichtigkeit zu schildern, die die Zeit beim Lesen nur so verfliegen lässt. Auch die Darstellung des ländlichen Missouris wirkte auf mich sehr authenthisch (natürlich kann man das als Außenstehender gar nicht wirklich beurteilen), so dass ich sogar etwas überrascht darüber war, dass es sich bei Benedict Wells um einen Deutschen Autor handelt.

Für mich ist „Hard Land“ eines dieser raren Bücher, bei denen man wirklich traurig ist, wenn es zu Ende ist und man die Charaktere hinter sich lassen muss, von dem her ist das definitiv eines meiner absoluten Lese-Highlights 2021. Ich habe mir auch vorgenommen noch mehr Bücher des Autors zu lesen.

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Buch-Tipp: „Kein Feuer kann brennen so heiß“ von Ingrid Noll

Ingrid Noll ist in Deutschland sicherlich am Bekanntesten für ihren Krimi „Die Apothekerin“, der durch hinterlistigen schwarzen Humor zu bestechen wusste. Auch andere Krimis von Ingrid Noll haben mich mit ihrem subtilen Humor immer wieder gut unterhalten, doch die letzten Jahre hatte ich wenig von ihr gehört.

„Kein Feuer kann brennen so heiß“ ist nun ihr neu erschienener Roman, in dem die Altenpflegerin Lorina die Hauptrolle spielt. Lori ist nicht besonders gutaussehend und leidet seit ihrer Kindheit unter ihrer Tollpatschigkeit und einem nicht besonders ausgeprägten Selbstbewusstsein. Ein Handicap das sicher auch dadurch bestärkt wurde, dass sie auch in ihrer Familie als der Tollpatsch galt, nicht zu vergleichen mit ihrer hübscheren und beliebteren Schwester Carola. Doch zumindest beruflich läuft es für Lorina gerade gut, denn sie hat eine Stelle im Haushalt einer betuchten älteren Dame ergattert, die nach einem Schlaganfall Hilfe braucht. Lorina darf bei ihr wohnen, hat relativ moderate Arbeitszeiten und im Haus auch noch Gesellschaft des etwas weibstollen Masseurs Boris und der Haushaltshilfe Nadine. Lorina fühlt sich mit Beruf, Arbeitgeberin und dem sozialen Umfeld sehr wohl, doch als der charakterlich etwas spezielle Boris in ihrem Bett landet, überschlagen sich die Ereignisse bald…

Das Buch ist in lockerem Tonfall geschrieben und die Charaktere wachsen einem schnell ans Herz. Trotzdem hat mich das Buch nicht zu 100% überzeugt, denn als Krimi überzeugt es nicht wirklich und auch sonst fehlt der ganzen Geschichte etwas die Handlung. Es plätschert trotz kreativer Ideen alles etwas gefällig vor sich hin, doch den Biss der alten Krimis von Ingrid Noll findet man darin nicht wirklich wieder. So bleibt es eher ein netter Unterhaltungsroman für zwischendurch, der mir aber trotzdem recht gut gefallen hat.

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Buch-Tipp: „60 Kilo Sonnenschein“ von Hallgrimur Helgason

„60 Kilo Sonnenschein“ von Hallgrimur Helgason wurde mit dem Isländischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet. Bewusst habe ich von dem Autor noch nie etwas gelesen, habe aber inzwischen gesehen, dass er auch der Autor von „101 Reykjavik“ ist, einem Roman der mir zumindest durch die sehr erfolgreiche Verfilmung bekannt ist.

„60 Kilo Sonnenschein“ spielt im Island der Jahrhundertwende, und zwar grob im Zeitraum von ca. 1895 bis 1905. Am Anfang des Buches kämpft sich ein Vater durch Schneemassen von einem Handelsausflug nach Hause zu seiner kargen Eigenheim in einem abgelegenen Fjord , nur um festzustellen, dass sein Haus, seine Frau, seine Kinder und seine Kuh inzwischen unter einer Lawine begraben wurden. Lebend freischaufeln kann er leider nur seine Kuh, sowie seinen kleinen Sohn Gestur. Frau und Tochter haben das Unglück nicht überlebt. Schon bei dem Versuch die Leichen zu bergen und zur Kirche der kleinen Siedlung zu transportieren wird die Stärke des Romans sichtbar, denn so tragisch die Geschehnisse, so skurril und humorvoll die Charaktere des Buches und die Beschreibung der Ereignisse.

Nach diesem tragischen Start ins Leben darf der Leser die weitere Geschichte des kleinen Gestur mitverfolgen, der zunächst seinen Vater verliert, nach wenigen Jahren von seinem ersten Ziehvater unfreiwillig verstoßen wird und danach zurück am Ursprungsfjord landet, wo er von einem alten Freund seines Vaters weiter aufgezogen wird. Immer auf der Suche nach einer Heimat und einem Platz im unwirtlichen und altmodischen Island der Jahrhundertwende. Zusammen mit Gestur und den anderen Dorfbewohnern (die man über den Verlauf des Buches immer besser kennen lernt) lernt der Leser wie die Isländer in einer unwirtlichen Landschaft, von Naturkatastrophen gebeutelt ganz langsam in einem neuem moderneren Jahrhundert ankommen, wie die Norweger statt dem bisher verbreiteten gefährlichen Walfang die für Isländer völlig unsinnige Heringsfischerei sowie moderne Handelsmethoden ins Land bringen, wie eine ganze Kirche weggeweht wird, wie viele Menschen ihr Leben an die unwirtliche Natur und gelegentlich auch durch einen Mord verlieren.

Das Erzähltempo des Buches ist dabei eher langsam, die Sprache altmodisch (allerdings nicht ohne einige Anspielungen an das moderne Leben), humorvoll, derb und ironisch. Mich erinnerte das Buch vom Stil her etwas an einen Charles Dickens Roman, bloß mit mehr Humor. Hallgrimur Helgasons Blick auf die Isländer und ihre Mentalität ist dabei von recht viel Spott geprägt, der aber immer liebevoll ist. In einer anderen Rezension habe ich gelesen, dass der Roman am Ehesten als tragischkomischer Schelmenroman zu beschreiben ist und diese Formulierung trifft es wirklich gut.
Für mich ein sehr besonderes Leseerlebnis im Jahr 2020.

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Buch-Tipp: „Wuhan Diary – Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“ von Fang Fang

Heute möchte ich ganz besonderes Tagebuch (in Buchform) vorstellen, nämlich „Wuhan Diary: Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“ der chinesischen Schriftstellerin Fang Fang.
Zugegebenermaßen kann man sich fragen, ob man 2020 wirklich Lust hat auch noch eine Tagebuch zum Thema Corona zu lesen, wenn das Thema ja sowieso schon ziemlich omnipräsent ist. Allerdings klang „Wuhan Diary“ für mich einfach zu spannend, um daran vorbeizugehen und meine Erwartungen wurden zum Glück nicht enttäuscht, das Buch war keine Minute langweilig oder schwer, sondern sehr kurzweilig und informativ.

Da das Buch aus einem Blog entstanden ist, sind die einzelnen Kapitel auch jeweils unabhängige Einträge, die also keine lineare Geschichte erzählen. Gelegentlich wiederholen sich Erwähnungen von Geschehnissen deswegen auch, was ich aber nicht störend fand. Mir hat der Plauderton und auch die gelegentliche Einstreuung von Banalitäten (so fängt z.B. fast jeder Tag mit einer Beschreibung des aktuellen Wetters an) gefallen, denn es nimmt dem Thema die Schwere und man fühlt sich der Autorin näher als wenn sie versucht hätte einen sachlichen „objektiven Lagebericht“ zu schreiben.

Was ich mich vor dem Lesen des Buches fragte, ist wie die Autorin es überhaupt geschafft hat an der chinesischen Zensur vorbei zu veröffentlichen (denn das Buch enthält teilweise schon sehr harsche Kritik an den verantwortlichen Behörden und Beamten). Dies wird in den Blogeinträgen allerdings immer mal wieder nebenbei thematisiert, so dass man daraus schließen kann, dass der Blog auf mehreren Blogger-Portalen gelöscht wurde und die meisten Einträge zuletzt von einer befreundeten Schriftsteller Kollegin auf WeChat verbreitet wurden. So erfuhr man nebenbei auch noch etwas mehr darüber wie Menschen in China die „Zensurbehörden“ umgehen, z.B. durch Einstreuen von irgendwelchen beliebigen Schriftzeichen in Wörter oder Sätze. Außerdem scheint es so zu sein, dass die meisten Dinge eher im Nachhinein gelöscht werden, so dass es immer reicht, dass jemand schnell genug war, diese abgespeichert zu haben.

Inhaltlich beschäftigen sich die Blogeinträge meist mit 3 verschiedenen Themenblöcken: Erstens prangert die Autorin sehr leidenschaftlich die Versäumnisse und Fehlinformationen durch die lokalen Behörden zu Beginn der Pandemie an, so zum Beispiel wurde noch im Januar von einem hochrangigen Experten erklärt, das Virus sei unter Kontrolle und nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Auch wurden ähnlich wie in Europa noch lange größere -auch staatliche – Festlichkeiten und Großveranstaltungen abgehalten. Fang Fang plädiert dafür, dass die Geschehnisse von damals akribisch aufgeklärt gehören und die Verantwortlichen zurücktreten sollen. Weiterhin versucht sie in ihrem Blog immer einen Überblick über die Lage der Pandemie abzugeben, meist basierend auf Erzählungen und Infos von befreundeten oder bekannten Ärzten (die sicherheitshalber anonymisiert sind, was ihr von Gegnern dann desöfteren vorgeworfen wurde, da als Quelle immer nur „ein befreundeter Arzt“ genannt wird). Schreckliches wird in den Blogeinträgen dabei oft eher in Nebensätzen erwähnt, zum Beispiel als Fang Fang Beispiele für unmenschliches Verhalten der Obrigkeit anprangert, so verhungerte z.B. ein hirntotes Kind im Koma zuhause, weil sein Vater nach der Abriegelung nicht rechtzeitig nach Hause zurückgelassen wurde. Etwas das in Deutschland zum Glück undenkbar sein dürfte (umso befremdlicher, dass die Menschen die in Deutschland ständig auf die Straße gehen um gegen eine angebliche Diktatur zu demonstrieren oft die gleichen sind die autokratische und autoritäre Regimes romantisieren ).

Aber auch Alltagserlebnisse kommen in dem Buch nicht zu kurz, so erfährt man einiges über den auch in China vorhandenen Mangel an Schutzmasken (Klopapier schien dort allerdings nicht gehamstert worden zu sein, zumindest wurde es nirgends erwähnt 😛 ), die Autorin erzählt auch, dass sie 2020 das erste Mal seit der SARS Epidemie wieder eine Maske getragen hat, besonders nachhaltig scheint der Lerneffekt daraus also auch in China nicht gewesen zu sein.
Als Haustierbesitzer fand ich das Thema „Haustiere während des Shutdown“ natürlich besonders interessant. Die Autorin hatte einen schon 16-jährigen Hund, der aber immer alleine oder auch mit ihr im Hof des Wohnkomplexes „Gassi“ gehen konnte, so dass die einzigen praktischen Probleme waren, dass tatsächlich irgendwann kein Hundefutter aufzutreiben war , so dass der Hund den gekochten Reis mitessen musste. Ansonsten fand ich es noch faszinierend, dass die Autorin erzählte, dass sie als die Tierklinik nach dem Shutdown wieder öffnete, zwar nicht mit in die Klinik durfte, aber die Behandlung einer Hautkrankheit live auf einem Videoscreen mitverfolgen konnte (soviel Digitalisierung sollten wir in Deutschland mal in der Schule oder überhaupt irgendwo haben…)
Man muss dabei natürlich bedenken, dass die Autorin sicherlich in recht privilegierten Verhältnissen (einem Wohnkomplex des chinesischen Schriftstellerverbandes) lebt und nicht gerade zur chinesischen Unterschicht gehört.

Im letzten Teil geht es vermehrt auch um Anfeindungen im chinesischen Internet (nach eigener Aussage sowohl von Links- als auch Rechtsextremisten), gegen die sich Fang Fang sehr energisch wehrt. Die Beschreibungen der chinesischen Netzkultur hinterließen bei mir den sehr starken Eindruck, dass dort im Prinzip im „internen“ Internet alles genauso zugeht wie bei uns (bloß halt mit vllt etwas mehr zentral gesteuerten Löschungen…).

Mit hat das Tagebuch sehr gut gefallen, außerdem fand ich Fang Fang sehr sympathisch, eine sehr meinungsstarke und undiplomatische bzw. konfrontative Person, die aber trotzdem offenbar einen unerschüttlichen Glauben an den Humanismus hat (Lieblingszitat aus dem Buch „Das wahre Gesicht einer Gesellschaft zeigt sich in ihrer Haltung gegenüber den Schwachen. (Seite 151)“. Die Sprache wirkt aus Deutscher Sicht manchmal etwas ungewöhnlich, dass ist aber vllt generell der Übersetzung aus dem Chinesischen geschuldet, den Lesefluß hat es überhaupt nicht gestört, der Stil ist lediglich etwas „anders“. Volle Leseempfehlung von mir!

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Buchtipp: „Vater unser“ von Angela Lehner

„Vater unser“ von Angela Lehner ist ein österreichischer Roman mit einer sehr ungewöhnlichen Protagonistin. Eva Gruber ist Ich-Erzählerin und wurde gerade in eine psychiatrische Klinik eingeliefert, weil sie (zum Glück nur) behauptete eine Kindergartenklasse erschossen zu haben. Die Hintergründe ihres Verhaltens und ihr Motiv bleibt dabei erstmal unklar. Als Leser merkt man schnell, dass man Eva als Erzählerin nicht unbedingt trauen kann. Sie ist auf jeden Fall hochintelligent, hat einen bissigen Humor, ist scharfzüngig, aber schon in der Schule sagten die Klassenkameraden über sie häufig „Die Eva lügt immer!“.

Ebenfalls in der psychatrischen Klinik in Behandlung ist Evas Bruder Bernhard, der wegen Magersucht dort behandelt wird. Schnell drängt sich beim Leser der Verdacht auf, dass Eva vielleicht nur wegen ihm in der Klinik ist. Vorgeblich möchte sie ihren Bruder retten, doch der reagiert eher ablehnend auf Eva und es ist klar, dass die familiären Verhältnisse der Geschwister kompliziert sind. Schnell wird klar, dass für Eva alles mit ihrem Vater zusammenhängt und dass Eva und Bernhard ihre Kindheit als traumatisierend empfunden habe, doch was genau die Hintergründe für die psychischen Probleme der beiden Geschwister sind bleibt schwammig. Man erfährt in sprunghaften kurzen Kapitels Episoden aus Evas Kindheit und muss sich ansonsten ganz auf ihre Erzählungen verlassen, bei denen man aber nie wirklich weiß was Wahrheit und was Lüge ist.

Das Buch liest sich dabei kurzweilig und sehr unterhaltsam. Eva ist mit ihrer Egozentrik und ihrem Hang zur Manipulation ihres Umfelds sicher kein besonders sympathischer Charakter, trotzdem sind die Schilderungen des Klinikalltags oft erstaunlich pointiert und man fragt sich oft, wer nun eigentlich „verrückt“ ist.

Mir hat das außergewöhnliche Buch sehr gut gefallen.

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Krimitipp: „Schattenkind“ von Anne Holt

Die Handlung von „Schattenkind“ von Anne Holt beginnt in Norwegen an einem schicksalhaften Tag, nämlich am Tag an dem Anders Breivik den Terroranschlag in Oslo und das Massaker auf Utoya begeht. Die Tragödie auf die die Kriminalpsychologin Johanne Vik an diesem Tag trifft, hat aber gar nichts mit den schrecklichen Geschehnissen zu tun.
Sie wollte eigentlich nur auf die Geburtstagsfeier des 8-jährigen Sohnes ihrer alten Schulfreundin Ellen. Doch zu ihrem Schock findet sie dort stattdessen traumatisierte Eltern und ein totes Kind vor, angeblich fiel der Junge Sander von einer Trittleiter, als er versuchte die Decke im Wohnzimmer zu bemalen. Sander galt als schwieriges und lebhaftes Kind und hatte eine ADHS Diagnose, so dass die Eltern als Grund für den Unfall seinen unbändigen Bewegungsdrang anbringen.

Da quasi alle Krankenwägen und Polizisten mit dem Terroranschlag in Oslo beschäftigt sind, dauert es lange bis überhaupt ein Polizist am Ort des Geschehens auftaucht und zwar der noch sehr unsichere und unerfahrene Jungpolizist Henrik Holme.
Der macht zwar so einige Fehler und fühlt sich anfangs mit dem Fall überfordert, aber er kann sich Eindrucks nicht erwehren, dass in dem Fall etwas nicht stimmt und nimmt relativ schnell Sanders Vater Jon ins Visier. Ellen bittet verzweifelt Johanne um Hilfe, die sich aber nicht wirklich in den Fall hinein ziehen lassen möchte. Natürlich klappt das nicht wirklich und so graben Johanne und Henrik Holme unabhängig voneinander immer tiefer im Familienleben von Ellen, Jon und Sander.

Mir hat der Krimi wirklich hervorragend gefallen, Anne Holt ist sowieso immer ein Garant für hochwertige psychologische Krimis (ich kann mich nicht erinnern von ihr schon mal etwas gelesen zu haben, das ich nicht gelungen fand). Es handelt sich also nicht um einen Spannungsroman, sondern um eine intelligente Aufdeckung einer Familientragödie, die noch dazu mit einem wirklich ungewöhnlichen Ende aufwartet (das wiederum vermutlich nicht jedem gefallen dürfte). Das Verhältnis zwischen Krimihandlung und Privatleben der Ermittlerin fand ich auch gelungen. Etwas skeptisch war ich bezüglich der Vermengung der Geschichte mit dem Anschlag von Anders Breivik, diese diente aber mehr oder weniger nur als Hintergrund dafür, dass Hendrik Holme als Ermittler in Erscheinung treten konnte und macht insofern schon Sinn, da es sonst wenig glaubwürdig gewesen wäre, dass Hendrik Holme so eine tragende Rolle in den Ermittlungen spielt.

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Buchrezension: „Sleeping Beauties“ von Stephen & Owen King

„Sleeping Beauties“ ist (meines Wissens) das erste Buch, das Stephen King zusammen mit seinem Sohn Owen King geschrieben hat. Wie auch für Stephen Kings Solo-Romane typisch hat es eine epische Länge von an die 900 Seiten, ist also nichts für Leute, die es gerne kurz und knackig mögen. Obwohl das Buch übersinnliche Elemente enthält, handelt es sich keineswegs um einen Horrorroman, ich würde es am Ehesten als Fantasy Roman zur „Me too“ Debatte beschreiben 😉 (obwohl es von 2 Männern geschrieben ist, ist Feminismus, Sexismus, Patriarchat und der fortwährende Konflikt zwischen Frauen und Männern wohl das prägende Thema des Buches…dass es von 2 Männern stammt mag man merkwürdig finden, ist aus meiner Sicht aber durchaus gelungen).

Die Handlung spielt in einer Kleinstadt namens Dooling in den Appalachian Mountains (eine Gegend, die in Büchern und Filmen im Moment immer den Eindruck erweckt, als gäbe es da fast nur arme Menschen die Crack kochen und rauchen…), aber die Geschehnisse betreffen die ganze Welt. Von einem Tag auf den anderen fallen plötzlich Frauen in einen Art Dornröschen-Schlaf, sobald sie einschlafen bildet sich um ihren Körper eine Art spinnwebenartiger Kokon und die Frauen wachen nicht mehr auf. Versucht man den Kokon zu entfernen, nimmt das in der Regel kein gutes Ende für denjenigen der es versucht. Gleichzeitig mit dieser bedrohlichen Krankheit taucht in der Kleinstadt Dooling eine mysteriöse Frau auf und tötet 2 Drogendealer auf brutale Art und Weise…hat sie etwas mit den Geschehnissen zu tun?

In den ersten Tagen der Seuche, die „Aurora“ genannt wird, versuchen die Frauen die noch nicht eingeschlafen sind mit allen Mitteln (primär Drogen) wach zu bleiben, während die Männer mehr und mehr die Kontrolle über die Situation verlieren. Die drauf resultierende Geschichte beschäftigt sich dann mit fast allen gesellschaftlichen Themen, die die USA im Moment bewegen, ganz vorne dabei, Seximus und Waffen und stellt die große Frage ob eine Welt in der es nur Männer oder nur Frauen gibt, wohl überhaupt existieren könnte, besser oder schlechter oder gar wünschenswert wäre?

Mir hat der Roman gut gefallen, wobei ich mir vorstellen kann, dass jemand der einen Horrorroman oder Thriller erwartet hat, wohl enttäuscht sein könnte, denn ein Spannungsroman ist das Buch keineswegs und manchen Lesern wird er wohl auch etwas zu langatmig sein. Im Vergleich zum Schreibstil von Stephen King (alleine) finde ich den Stil etwas klarer und nüchterner und etwas weniger „jovial“, was einerseits erfrischend ist wenn man schon unzählige Stephen King Romane gelesen hat, andererseits aber etwas weniger Nähe zu den Charaktere schafft wie Stephen King das alleine irgendwie immer gelingt. Insgesamt ein gelungener Roman zu den großen gesellschaftlichen Debatten dieses Jahres (was eine Leistung ist, da ich vermute, dass der Roman schon sehr viel länger in Entstehung ist).